Was ist die Existenzanalyse?
Die Existenzanalyse (EA) ist ein facettenreicher, tiefgründiger und ganzheitlicher Ansatz für die Arbeit mit
Menschen, Gruppen und Organisationen. Als originär psychotherapeutisches Verfahren kommt die EA heute in einem
breiten Spektrum von Anwendungsfeldern wie beispielsweise Coaching, Personal-, Team- und
Organisationsentwicklung, Führung, Pädagogik, soziale Arbeit, Pflege oder Seelsorge zum Einsatz. Nachfolgend
sind einige wesentliche Aspekte der EA beschrieben.
- Das Kernthema der Existenzanalyse ist die persönliche Lebensgestaltung
mit der Kernfrage, wie gutes Leben gelingen kann. Es geht um den Menschen und sein eigenes Leben. Die EA
ist – metaphorisch gesprochen - die ‘Grammatik’ gelingenden Lebens.
- Die EA hat ausgeprägt philosophische Wurzeln. Die EA basiert auf dem Gedankengut und
Erfahrungsschatz der 2000 Jahre alten, abendländischen philosophischen Tradition. Besonderen Einfluss
hatte die Existenzphilosophie. In der Existenzphilosophie steht der einzelne Mensch mit seiner
persönlichen Auseinandersetzung mit seinem Leben im Zentrum. Der Mensch wird als Mitgestalter seines
Daseins verstanden: «Wer du bist, ist das Ergebnis deiner Entscheidungen, die du triffst.» - dies ein
zentraler Gedanke der Existenzphilosophie. Die existenzphilosophische Grundüberzeugung geht davon aus,
dass der Mensch letztlich frei ist – und damit verantwortlich für alles, was er tut. Damit ist der Mensch
Herr seines Schicksals und Glücks. Das heisst natürlich nicht ein Freisein von äusseren Bedingungen –
vielmehr bedeutet dies Urheber- und Autorenschaft für seine eigene Welt, Lebensentwurf, Entscheidungen und
Handlungen.
- Die Existenzanalyse ist eine grundsätzliche Haltung, Herausforderungen
im Leben zu begegnen und auch unter schwierigen Bedingungen und bei Begrenzungen Freiräume und
Möglichkeiten zur Gestaltung zu finden. Grundlegend ist der kontinuierliche äussere und innere Dialog –
ein in Beziehung-Treten zu dem, was da ist und mit den Rahmenbedingungen bestmöglich umzugehen. Der Mensch
ist ständig Angefragter seiner Situation und damit aufgerufen, persönlich stimmige, authentische Antworten
zu geben, statt reflexhaft zu reagieren. In dieser Doppelbezüglichkeit persönlich stimmige Antworten zu
finden, ist der Kerngedanke der EA.
- Existenz ist der Leitbegriff der EA. Existenz wird in der EA
verstanden als ein sinnvolles, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes Leben, das der Mensch als das
seinige empfindet und worin er sich als Mitgestalter erlebt (Längle). Der Begriff Existenz leitet sich vom
lateinischen Wort ‘ex-sistere’: Heraus-treten, heraus-heben, sich aufrichten, in Erscheinung treten. Dies
bedeutet ein Heraustreten aus dem Verstricktsein der inneren und äusseren Dynamik und in ein gestaltendes,
freies (entschiedenes) Handeln kommen. Existenz ist die spezifische menschliche Seinsart: der Mensch ist
das einzige Lebewesen, dass sich seiner Existenz bewusst ist.
- Existenziell bedeutet auch: Das eigene Leben wesentlich betreffend.
Die EA greift bedeutsame Fragen für die eigene Lebensführung auf wie beispielsweise Sinn, Erfüllung,
Zugehörigkeit, Werte, Authentizität, Freiheit/Verantwortung, Lebensentscheidungen, Weggabelungen, Krisen,
Leid oder Endlichkeit. Diese Themen sind zeitlose Themen der Philosophie, Religion, Spiritualität. Darüber
hinaus wurden diese Themen schon immer auch von Schriftstellern und Dichtern aufgegriffen.
- Eine Besonderheit im existenziellen Menschenbild besteht in der Betonung der
geistigen Dimension. Die geistige Dimension meint nicht die kognitiven Fähigkeiten wie
Wissen, Denken oder Intellekt, sondern das spezifisch Humane – das, was uns von Tieren nicht nur graduell,
sondern prinzipiell unterscheidet wie beispielsweise: Freiheit, Verantwortung, Sinn, Wertsuche, Erfüllung,
Dankbarkeit, Hoffnung, Gewissen oder Stellungnahme. Der Mensch wird als geistiges, sinnorientiertes Wesen
verstanden, das nach einer erfüllenden Existenz strebt. Dank der geistigen Dimension kann der Mensch sich
selbst gegenübertreten und auf Distanz zu sich selbst kommen. So wird ein ‘Mit-sich-selbst-umgehen-Können’
möglich.
- Hier kommt der Begriff der Person ins Spiel: das Wesen des Menschen:
das ganz Eigene, Unverwechselbare, Einmalige, Einzigartige. Die Person ist das Freie im Menschen. Sie ist
die Quelle von Authentizität, Würde, Kraft und innerer Zustimmung. Die Person ist das zentrale Konzept der
Existenzanalyse. Der Begriff Person gründet etymologisch in Per-sonare (hindurchtönen, hindurchklingen).
In der EA geht es im Kern um das Finden von authentischen (persönlichen) Antworten auf die Anfragen des
Lebens. Existieren bedeutet: mit innerer Zustimmung leben (Längle).
- Die EA basiert massgeblich auf den Arbeiten von Viktor Frankl (1905 –
1997). Frankl führte – als
Gegenbegriff zum Begriff der ‘Psychoanalyse’ von Freud und Adler - den Begriff der ‘Existenzanalyse’ ein.
Damit wollte er ein Gegengewicht zum damals aus seiner Sicht einseitigen ‘Psychologismus’ setzen. Frankls
Verdienst war die Integration der Philosophie und der geistigen Dimension in die damals noch junge
Disziplin der Psychologie. Die Themen Sinn, Werte, Verantwortung und Würde wurden massgeblich durch Frankl
geprägt.
- Die heutige EA als staatlich anerkanntes Psychotherapieverfahren wurde durch
Alfried Längle (*1951) auf der Basis der Logotherapie von Viktor Frankl entwickelt und
begründet. Die heutige Form der EA ist relativ jung: Sie wurde erst im Jahre 1992 fertiggestellt.
Kernelement der heutigen EA sind die vier Grundmotivationen. Mit den vier
Grundmotivationen, dem Strukturmodell der EA, liegt ein ganzheitliches Verständnis der
grundlegenden Motivationsstruktur des Menschen vor. Psychologische Themen wurden durch Längle
differenziert und mit hoher Systematik und Tiefenschärfe in einen philosophischen Bezugsrahmen integriert.
Dadurch liegt ein differenzierter, holistischer, substanzieller und tiefgründiger Bezugsrahmen und Fundus
für die Arbeit mit Menschen, Teams und Organisationen vor. Zudem sind zahlreiche Themen konzeptionell
fundiert beschrieben. Besonders aufschlussreich sind die differenziert ausgearbeiteten psychodynamischen
Copingreaktion bei Nichterfüllen der jeweiligen Grundmotivation. Darüberhinaus beinhaltet die EA auch eine
ausformulierte spirituelle Dimension.
- Das Konzept der vier Grundmotivationen, das Herzstück der heutigen EA, bildet die
Brücke zwischen Philosophie und Psychologie. Es hat den Charakter eines
Koordinatensystems und ist vergleichbar mit dem Periodensystem der Chemie. Oder in einer Analogie
gesprochen, besteht das EA-Haus aus einem philosophischen Fundament und Rohbau mit psychologischem
Innenausbau. Durch ihre Ganzheitlichkeit, Systematik und philosophische Fundierung ist die EA meines
Erachtens ein universeller, umfassender und nützlicher Bezugsrahmen für die Arbeit mit Menschen mit hoher
Erklärungspotenz und Handlungsorientierung.
- Neben dem Strukturmodell der vier Grundmotivationen hat Längle auch ein Prozessmodell
entwickelt: die sogenannte PEA (personale Existenzanalyse). In ihr kommt eine konsequent phänomenologische
Arbeitsweise zum Ausdruck. Die Phänomenologie, welche ihre Wurzeln in Existenzphilosophie
hat, ist die zentrale Methode der existenziellen Arbeitsweise. Darin kommt die grundlegende Haltung der EA
dem Menschen gegenüber zum Ausdruck: sie will dem Wesen der einzelnen Person in seiner Einmaligkeit und
Einzigartigkeit gerecht werden. Die auf Begegnung basierende Phänomenologie ist höchst
anspruchsvolles Unterfangen, das geübt werden will.
- Die EA ist die wohl konkreteste und ausgereifteste Ausformung
des existenziellen Paradigmas. Das existenzielle Paradigma (EP) ist – am Rande bemerkt -
kein einheitliches, geschlossenes Gedankengebäude, sondern vielmehr ein äusserst spannendes Konglomerat
aus unterschiedlichen Strömungen und verschiedener Exponenten aus unterschiedlichen Zeiten. Die
existenzielle Arbeit mit Menschen, Teams und Organisationen schöpft aus dem reichen Erfahrungsschatz und
Fundus des existenziellen Paradigmas. Gute Führung und Beratung stehen auf einem soliden philosophischen
Fundament.
- Die EA hat eine grosse Methodenoffenheit und ist gut mit anderen
Schulen und Ansätzen kombinierbar. Dies ermöglicht eine integrative Arbeitsweise. Ein zentrales Merkmal
der existenziellen Arbeitsweise ist die Handlungs- und Zukunftsorientierung. Dem Thema
Entscheiden kommt eine hohe Bedeutung zu.
- Die EA ist Teil des Dreigestirns 'Systemtheorie', 'Integrale Theorie' und 'Existenzanalyse'.
- Es braucht vermutlich nicht besonders erwähnt werden, dass die Kernthemen der EA wie
Sinn, Verantwortung, Werte, Motivation, Würde oder Lebensführung eine hohe Aktualität
besitzen.
Hier finden Sie diese Ausführungen im
PDF-Format.
Hier finden Sie einen Überblick über die EA.